Alles brav ausgetrunken

Der Vater wollte, dass er trinkt. Die Kollegen mochten ihn, weil er trinkt. Er selbst fand sich irgendwann widerlich.

Protokoll einer Alkoholabhängigkeit

Von Thomas Östreicher

"50 Mark." Der Vater schaut dem 19-Jährigen direkt ins Gesicht. "50 Mark, wenn du ihn trinkst." Der Sohn guckt fassungslos. Eben hat er angekündigt, für zwei Monate auf Alkohol verzichten zu wollen, und nun stehen zwei Schnäpse auf dem Tisch. Wir schreiben die späten Siebziger, da dürfen Väter noch stur sein. Alkohol ist ein Männlichkeitsbeweis und gehört dazu, schon gar sonntagmittags nach Knödeln und Braten.

"100 Mark." Der Sohn lehnt ab, nun ärgerlich. Spätpubertärer Trotz hilft, aber zugegeben, es fällt schwer. Erst recht, als der Vater 500 bietet, schließlich sogar 1000 Mark. Der Sohn weiß, er bekäme das Geld. Der innere Schweinehund und der äußere Verführer sprechen im Chor: Bloß einen Schnaps trinken, "Mensch, so schnell verdienst du nie mehr so viel Geld". Stimmt. Aber der Sohn lässt sie stehen, den Schnaps und den Vater.

Nur den Schweinehund wird er nicht los, denn der hat es sich längst gemütlich eingerichtet. Das Machtspiel mit dem Vater ist der erste Vorgeschmack auf das, was der Sohn, der sich zu dieser Zeit anschickt, Journalist zu werden, fast 30 Jahre lang innerhalb und außerhalb vieler Redaktionen erleben wird: Wer nicht mitsäuft, ist der Spielverderber und schaut in betretene Gesichter, wenn er verkündet, "im Moment trinke ich nicht". Genau zwei Monate im Jahr, denn von da an pflegt er konsequent den Verzicht nach Kalender stets dann, wenn es mal wieder zu viel geworden ist.

Was nichts mit Fastenzeit und ethischen Aktionen à la "Sieben Wochen ohne" zu tun hat. Mit 19 hat er einfach ein komisches Gefühl dabei, spätestens am Abend zu trinken. Jeden Abend. Und trinken heißt: betrunken sein. Dass er sich anschließend regelmäßig ins Auto setzt und die B 45 unsicher macht, unterscheidet ihn nicht von anderen in der hessischen Provinz. Niemand hinterfragt das. Fast alle machen mit. In jeder Familie wird getrunken.

Den ersten Alkoholkontakt haben deutsche Jugendliche heute mit 13,6 Jahren, ihren ersten Vollrausch erleben sie zwei Jahre später. Sagt die Statistik. Er ist beim ersten Glas elf. Der Sekt bei der Verlobung der Schwester macht ihn schwindlig und auch etwas schwermütig. Aber am nächsten Tag ist die Familie stolz auf ihn. Das Zeug schmeckte ihm zwar nicht, und der Zustand war gar nicht schön. Trotzdem scheint es dazuzugehören. Seltsame Welt.

Als wir am 7. Juli 1974 gegen die Holländer Fußballweltmeister werden, ist die Freude vor dem Fernseher groß, und es gibt eine Runde Obstler nach dem Abpfiff. Auch für ihn, den 13-Jährigen. Da lässt das Bier nicht lange auf sich warten, obwohl es dauert, bis es endlich zu schmecken scheint. Viel zu bitter, findet er anfänglich, aber Männlichkeit hat eben ihren Preis. Und als er 1977 zum ersten Mal die Langhaarigen-WG schräg gegenüber betritt, weil die dort eine Zeitung machen wollen und Mitstreiter suchen, klingt ihm noch die Warnung der Mutter im Ohr: "Aber haschen tust du mir nicht!" Vor Bier warnt sie nicht.

Der Rest ist Übung. Bald kann er mit den Älteren im Studentenkeller mithalten und jeden Abend locker drei Halbe in sich reinschütten. Am Ende zwar lallend, aber das fällt nicht weiter auf unter lauter Betrunkenen. Zur Übung gehört auch, einmal im Jahr, nach besonders herausragenden Exzessen, den Kalender herauszuholen und feierlich zwei lange Monate Abstinenz zu geloben.

Dass Fachleute genau dieses Verhalten als Beleg für eine Suchtproblematik werten, weiß er da noch nicht. Im Rückblick kommen so tausende durchsoffene Nächte zusammen, hunderte davon bis in tiefe Niedergeschlagenheit, inklusive mancher Grenzüberschreitungen bei sich und gegenüber anderen. Im Vollrausch macht er mit Freunden Musik und ahnt die Klaviertasten mehr als er sie sieht, weil er mehr intus hat als seine Mitspieler zusammen. Als ihm immer häufiger vor sich selbst gruselt, fährt er im Suff nur noch Rad oder Bus. Glücklicherweise verursacht er nie einen Unfall - aber ist das schon eine positive Bilanz?

Das Gefühl spricht eine andere Sprache. Er registriert mit den Jahren zunehmende Ausfälle, Gedächtnislücken. Die tägliche Vorfreude auf das Saufen am Abend, die den wachsenden Bierbauch vergessen macht. Die Gier nach freien Tagen zu Hause, um beim Frühstück alleine eine Flasche Sekt zu öffnen, die den Mittag dann nicht überlebt. Oder die kleine Bösartigkeit, den Einkaufsbummel mit einem Bierchen zu unterbrechen, das doch niemandem schadet. Nennen wir es ein schmutziges Geheimnis. Und kein Konzert- oder Kinobesuch nüchtern. Längst nimmt er sich zwei Biere mit in die Vorstellung. Sind es große Flaschen, umso besser.

Das ungute Gefühl bleibt. Verstärkt durch plötzliche Rückmeldungen der Lebensgefährtin, höchst vorsichtig geäußert und doch ins Mark treffend: "Ich habe mich gestern für dich geschämt", sagt sie einmal. Später wieder. Weil er sich danebenbenahm, mehr als nur eine Spur zu ausgelassen feierte, den Taxifahrer anbrüllte, sich gelegentlich vergaß.

Ich habe mich für dich geschämt: Diesen entsetzlichen Satz vergisst er nicht. Und spürt die wachsende Not, nicht herauszufinden aus dem Dilemma zwischen dem Wunsch, das Gesicht zu wahren, und möglichst täglich zu trinken. Erst mit 46 entdeckt er die fatalste Falle von allen: Wer am Vorabend zu viel gesoffen hat, kann den Kater bekämpfen, indem er möglichst bald am Folgetag weiterschluckt.

Er ertappt sich bei dem Gedanken, dass gelegentliche Sektrunden im Büro ihre Vorteile hätten. Leider will ihm keine plausible Begründung einfallen, womit er die Runden einführen könnte. Das heimliche Trinken bei der Arbeit wird eine Option. Man hat so tolle Ideen nach einem bisschen Sprit. Die Kreativität erfährt einen Schub, glaubt er, das helfe auch beim Schreiben.

"Wieso belässt du es dann nicht bei zwei Gläsern?", fragt die Freundin in einem seiner klaren Momente, aber darauf weiß er keine Antwort. Die Wahrheit lautet: Wie jede Droge duldet Alkohol es nicht, an Bedeutung zu verlieren. Im Verlauf eines Abends nicht, im Laufe eines Lebens nicht. "Etwas wiederholt tun, was man eigentlich nicht tun möchte, aber nicht unterlassen kann", definiert der Brite Allen Carr Abhängigkeit, "oder was man seltener tun möchte, aber nicht einschränken kann." Danach sind 90 Prozent der Erwachsenen alkoholabhängig. Absurd. Alkoholiker, ich? Abhängig? Ich beweise doch jedes Jahr, dass ich nicht trinken muss.

So leicht betrügt man sich und andere. Das Zähneputzen in Bürozeiten, der Kaugummi, das Pfefferminz - die kleinen Lügen schleichen sich irgendwann in seinen Alltag. Zwei kleine Helle in der Eckkneipe zwischen U-Bahn und Verabredung bei einer Freundin, ein hastig geschüttetes Hefe, bevor er die Partnerin vom Bahnhof abholt; Geschmack oder Durst liefern das Alibi, wo es doch immer um die Wirkung geht, und die Wirkung darf nicht nachlassen.

Simon Borowiak hat in seinem humoristisch-brillanten Sachbuch "Alk" beschrieben, wohin das führt: zu einer Toleranzgrenze, die sich erwiesenermaßen nie wieder nach unten verschiebt. Bei dem einen geht das schneller, bei der anderen langsamer. Aber wer sich einmal daran gewöhnt hat, an normalen Abenden drei Weizenbiere und eine halbe bis ganze Flasche Rotwein zu trinken, der wird nie wieder von lediglich einem halben Glas Sekt bedröhnt sein.

Dabei braucht es keine sektiererische Verbohrtheit, um mit etwas Aufmerksamkeit der Allgegenwart des Themas bewusst zu werden: beim früheren Abteilungsleiter etwa und seinem täglichen Sekt-Besäufnis mit den Kollegen im Archiv. Die Sekretärinnenrunde zum "Piccolöchen" jeden Mittag hinter geschlossener Tür. Die Geschenkpakete der Anzeigenkunden: Champagner, Whisky, Prosecco. Die Wein-Rezensionen in den Wochenendausgaben der Tageszeitungen, Wein als Abonnement-Prämie der Illustrierten. Das Rouladen-Rezept der Kollegin: "Mit einer ganzen Flasche Rotem schmoren!" Alles ganz normal. Ein offen gerauchter Joint, eine Linie Koks kurz vor Redaktionsschluss wäre undenkbar. Süßigkeiten "mit Schuss" gehen schon eher. Die kommen gelegen: Nach zwei "Mon Cherie" am Nachmittag wird er lustig und textet voller Esprit, findet er. Nachteil: Fahne.

Wenn ihn mal jemand darauf anspricht, hat er einen Scherz parat und denkt bei sich: Ich darf machen, was ich will. Da ist nichts dabei. Ich habe das im Griff. Ja, manchmal trinke ich ein bisschen mehr, aber nur wenn ich einen stressigen Tag hatte. Beziehungsweise: Ja, manchmal trinke ich ein bisschen mehr, aber nur entspannt mit Freunden. Stand nicht irgendwo, ein bisschen Alkohol sei sogar gesund? Ein kleiner Schluck macht jedenfalls locker, beim Sex und auch sonst.

Wer ist schuld an der Sucht? Der Vater, der beteuert, den Cognac zum Einschlafen zu brauchen? Die Mutter, die seit jeher ihren Obstsalat in Grand Marnier ertränkt? Die Freunde und ihr Gruppendruck? Die schwere Kindheit, das Mediengeschäft, die Klimakatastrophe, die Gene? Wenn, dann wohl vor allem das Zum-Kühlschrank-Gen, kalauerte mal jemand. Nein, für Erklärungen sollen sich Biologen, Psychologen und Soziologen interessieren. Ihre Antworten entlasten den Abhängigen, der keiner sein will, von der Verantwortung. Nicht fürs Anfangen. Sondern fürs Aufhören.

Auf Willenskraft kommt es da noch am wenigsten an. Bei ihm macht es eines Abends Klick. Auf dem trunkenen Heimweg, zu Fuß in nieselnder Nacht, überfällt ihn mal wieder eine knallharte Depression, einfach so, wie ein Sog. Lange steht er nass da am Rand der Klippe, von der man nur einmal springt; irgendwann schafft er es nach Hause. Hat am nächsten Morgen einen peinlich unprofessionellen Bierkater, beschließt, wieder zwei Monate auszusetzen, wie jedes Jahr.

Doch dieses Mal ist etwas anders. Er wünscht sich, endlich ganz loszukommen von dem Zeug. Sofort bricht ihm der Schweiß aus beim Gedanken an den Verzicht: Nie wieder einen der teuren, aber leckeren Rotweine in der "Brasserie La Provence"? Kein einziges kühles Bier mehr wie die zahllosen Pils des letzten Fußball-Sommers? Kein Sherry am Nachmittag, kein Campari-O in der Sonne?

So angstbesetzt der Ausstieg ist, so grotesk leicht fällt er ihm. Er dauert etwa so lange wie die Zugfahrt Hamburg-Frankfurt und kostet 8,90 Euro plus eine finale Investition. Denn tatsächlich hat Allen Carr, der als Nichtraucher-Papst mit dem Buch "Endlich Nichtraucher!" Millionär wurde, bevor er an Lungenkrebs starb, einen ähnlichen Ratgeber über das Saufen geschrieben: "Endlich ohne Alkohol!"

Der Mann schreibt stilistisch fragwürdig, im Ton nervig und überheblich - und hat doch mit jedem Satz recht. Minutiös zerlegt er jeden einzelnen Grund für den Alkoholkonsum, und noch einige Ausreden mehr, auf die man von alleine kaum gekommen wäre. Er deprogrammiert Süchtige, gründlich. Carr verlangt am Ende nach einem allerletzten Drink, einem möglichst ungeliebten Gesöff. Der lauwarme Gordon's Gin an diesem schwülheißen Frühlingstag in der Bahnhofs-Lounge schmeckt wie Formaldehyd gemischt mit Badezusatz. Der Ekel wächst mit jedem Schluck. Danach ein letztes Mal benebelt, Gekicher und Kopfschütteln: Und diesen Quatsch habe ich mal gebraucht?

So leicht ist das erstaunlicherweise. Entzugsprobleme erlebt er nicht, dafür die Euphorie der Befreiung. Wo sind eigentlich seine Depressionen geblieben? Er muss gelegentlich im Altglascontainer nachsehen. Sie verschimmeln wohl irgendwo im Dunkeln zwischen den grünen Flaschen.

Frankfurter Rundschau 15.6.2007